Seit 30 Jahren bist du am Kolleg, Ursel. Eine lange Zeit. Woran denkst du, wenn du das hörst?
Ursel Luh-Maier: Wenn junge Menschen so eng wie hier zusammen sind, miteinander leben und lernen, dann ist immer auch Bewegung drin. Das gilt auch für die Jahre, die ich am Kolleg verbracht habe: Es war immer Bewegung drin.
Dann lass uns gerne mal gemeinsam zurückblicken auf die letzten 30 Jahre.
Luh-Maier: Der größte Einschnitt in diesen 30 Jahren war mit Sicherheit die Gründung der CVJM-Hochschule im Jahr 2009. Das war ein Höhepunkt, etwas Großartiges. Es begann etwas Neues auf diesem heiligen Berg. Für die Fachschule war es aber auch ein Tiefpunkt. Der gesamte Fokus, alle Energie, alles Nachdenken ist – verständlicherweise – in die Hochschule geflossen. Die Fachausbildung sollte bewusst – so die Entscheidung des Vorstands – bleiben, hat aber in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle gespielt. Das war wie eine Art „Todeserklärung“ für das Kolleg, die sich natürlich auch an einem Einbruch der Studierendenzahlen bemerkbar machte. Viele junge Leute, die lieber studieren wollten, hatten jetzt die Chance, an der CVJM-Hochschule einen akademischen Abschluss zu erwerben. Und so haben wir in den letzten Jahren immer wieder in die Welt gerufen: ‚Uns gibt es noch! Wir sind eine profilierte Fachschule und machen eine gute Ausbildung.‘ Das war schon herausfordernd. Viele Jahre waren die Kolleg-Studierenden eine feste Größe hier auf dem Campus – und dann kamen die Studierenden der Hochschule und die Kolleg-Studierenden waren auf einmal in der Minderheit. Das macht natürlich auch etwas mit dem Selbstverständnis, mit den Lehrenden, mit der Lebens- und Lerngemeinschaft auf dem Campus. Trotzdem war die Gründung der Hochschule etwas Wunderbares, ein Riesenfortschritt, über den ich mich sehr gefreut habe.
Weil du es gerade ansprichst; hätte man die Kolleg-Ausbildung schon früher beenden oder abgeben müssen? Oder was hat dazu geführt, dass sie weitergeführt wurde?
Luh-Maier: Die Fortführung der Fachschule war zunächst überhaupt nicht infrage gestellt. Es gab ja auch eine lange Tradition, viele Leute haben dort ihre Ausbildung absolviert, schätzen diese und machen jetzt eine gute Arbeit. Man konnte sich anfangs die Fachschule gut neben und zusammen mit der neu gegründeten Hochschule denken. Ein interessantes Konzept, mit einem Alleinstellungsmerkmal: Unter dem großen Dach der gibt es verschiedene Studiengänge, eine Fachschule und diverse Weiterbildungen. Aber ich hätte, ehrlich gesagt, früher nicht gedacht, dass wir als Fachschule noch 15 Jahre nach Hochschulgründung ‚überleben‘. Es war ein Damoklesschwert, dass immer über uns schwebte: ‚Wenn die Studierendenzahlen nicht ausreichen, dann wird man die kleine Fachschule schließen!‘ Deswegen haben wir uns selbst auch weiterentwickelt und Neues ausprobiert. Da ist als Höhepunkt die Schwerpunktsetzung auf das Interkulturelle zu nennen, das wir 2016/2017 mit dem SEIL-Projekt begonnen haben. SEIL steht für ‚Schaffung eines interkulturellen Lernortes‘, und das hat noch mal alles verändert. Es kamen junge Menschen aus der ganzen Welt zu uns in die Kolleg-Ausbildung. Das hat eine enorme Horizonterweiterung mit sich gebracht und war das Beste, was dem Kolleg passieren konnte. Ein wunderbarer Dialog, ein ganz anderes, umfassenderes Leben und Lernen miteinander. Auch für uns Dozierende war das ein Quantensprung, eine große Bereicherung für alle Beteiligten. Es hat uns noch mal Aufwind gegeben.
Gibt es etwas, ein konkretes Erlebnis, von dem du sagst, dass du das niemals vergessen wirst?
Luh-Maier: Da könnte ich eine Menge aufzählen. Als ich im Januar 1995 kam, habe ich viele Dinge übernommen, die es schon gab und von denen ich noch nicht so genau wusste, was das überhaupt ist. Dazu gehörte ein internationaler Workshop für Berufspraktikant*innen, den mein Vorgänger eingeführt hatte und den es übrigens bis heute gibt. Damals bin ich mit einem Kurs, den ich überhaupt nicht kannte, eine Woche nach Irland gereist, um u.a. die Arbeit des irischen YMCAs kennenzulernen. Eine fremde Gruppe, ein fremdes Land, regnerisches Wetter – keine leichte Woche. Später habe ich genau diese Workshops geliebt: Ich war mit unseren Berufspraktikant*innen unterwegs in Ungarn, Tschechien, in Schweden in der Schweiz, mehrfach in England. Viele Ehemalige erzählen heute noch von diesen Begegnungen. Für und mit unseren Studierenden haben wir jedes Jahr sogenannte ‚Kolleg-Tage‘ organisiert. Mit dem letzten Jahrgang konnten wir im Oktober 2023 eine Woche nach Prag fahren. Das hat auch den Studierenden unseres letzten Kolleg-Jahrgangs das Gefühl vermittelt, dass sie jetzt nicht die Letzten, die Aussterbenden, der ‚heilige Rest‘ sind, sondern dass man in sie investiert und coole Sachen mit ihnen macht, die so an der Hochschule nicht möglich sind. Für mich gehört das Unterwegs-sein mit Studierenden über die Jahre auf jeden Fall dazu; es hat meine Beziehung zu den jungen Leuten und den Kolleg*innen sehr geprägt und bereichert. Und das andere: Ich bin 1995 als Praxisdozentin gekommen, war dann stellvertretende Schulleiterin, ab 2007 Direktorin, bin aber anteilig immer in der Praxisbegleitung geblieben, weil es mir immer wichtig war, die Welt nicht nur vom Schreibtisch aus zu sehen, sondern auch immer auch vor Ort, in den Praxisstellen zu sein. Ich habe viele Praxisbesuche gemacht und bin in den letzten (fast) 30 Jahren auch in Gegenden gereist, wo man nicht einfach so vorbeikommt. Da vor Ort zu sein und immer wieder neue Impulse durch und für die Praxis zu bekommen, fand ich wahnsinnig spannend. Es hat auch die Beziehung zu den Studierenden verändert: Man war Gast in ihrer Welt, in der sie die Fachleute sind. Diese Begegnungen haben mich sehr bereichert.
Inwiefern haben sich die Studierenden in den letzten 30 Jahren verändert?
Luh-Maier: Zum einen sind sie jünger geworden. Zum anderen kommen sie heute weniger aus einer starken Ehrenamts- oder CVJM-Prägung als früher. Viele kommen heute auch nicht aus einer langen gemeindlichen Tradition. Sie sind selbst noch mehr auf der Suche und dadurch auch offener. Das Dritte ist: Sie sind alle sehr motiviert, gleichzeitig spielen bei ihnen die Themen Work-Life-Balance und Grenzen-ziehen eine größere Rolle. Sie fragen nicht nur, wie sie eine gute CVJM-Sekretärin oder ein guter Erzieher werden, sondern auch: Wie pflege ich Beziehungen und was ist mir sonst noch wichtig im Leben? Es verändert sich in der Generation, aber auch in der ganzen Gesellschaft. Da merke ich einen großen Unterschied zu meiner Generation, aber auch zu den Studierenden aus den Anfangsjahren. Aber es ist schön zu sehen, dass auch die heutigen Studierenden Traditionspfleger*innen sind, die die Traditionen der Jahrgänge vor ihnen übernehmen und weiter pflegen. Vielleicht ist das stärkste Pfund das gemeinsame Leben und Lernen – egal, wie sich das auch über die Jahre hinweg verändert hat. Das ist es, was das Studieren an Kolleg und Hochschule ausmacht. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die vergangenen Jahre.
Inwiefern hat sich auch die Ausbildung geändert?
Luh-Maier: Es gab verschiedene Einschnitte oder Phasen. Ein großer Einschnitt war die Umbenennung der Sekretärsschule in CVJM-Kolleg aufgrund der Integration des Referats Fortbildung aus dem Gesamtverband in die Schule. Damit startete der sogenannte Studiengang II. Junge Leute konnten jetzt Sozialpädagogik an einer externen FH studieren und parallel dazu Theologie am CVJM-Kolleg. Eine weitere Veränderung in der Fachschule war die Auflösung des integrativen Konzepts, in der Sozialpädagogik und Theologie in einer 3-jährigen theoretischen Ausbildung eng miteinander verknüpft waren. Seit einigen Jahren haben wir die dreijährige Ausbildung getrennt, sodass fortan die Möglichkeit bestand, in zwei Jahren den Abschluss als Erzieher*in zu erwerben. Wer die dreijährige Ausbildung absolviert, hat am Ende einen doppelten Abschluss: als Erzieher*in und als Jugendreferent*in. Das hat natürlich die Möglichkeiten erweitert. Daneben gab es Lehrplanreformen – die letzte große war 2016 – die vom Land Hessen ausgingen und die wir als Privatschule, die gleichzeitig Fachschule des Landes Hessen ist, auch mit umgesetzt haben. Insgesamt haben wir uns als Dozierende immer wieder neu bemüht, die enge Theorie-Praxis-Verknüpfung zu gewährleisten und Anknüpfungspunkte für die Studierenden zu finden.
Was hast du von den Studierenden gelernt?
Luh-Maier: Ich lerne unglaublich viel durch kluge Fragen von Studierenden und das ist auch das, wo mir am meisten das Herz aufgeht. Manchmal sind das Themen, die ich schon lange unterrichte, und da tauchen immer wieder neuen Fragen auf, übrigens oft von unseren Studierenden mit Migrationshintergrund. Ich komme dann selbst immer wieder neu ins Nachdenken und Fragen, und das ist wunderbar! Ich lerne aber auch viel im Hinblick auf ihre Lebensführung und ihre Klarheit, sich abzugrenzen und mit einem anderen Selbstbewusstsein aufzutreten. Ganz anders als ich oder wir früher. Sie können gut für sich selbst kämpfen und für sich einstehen, haben den Mut, kritische Rückfragen zu stellen und haben insgesamt ein stärkeres Selbstbewusstsein, ihr Ding zu machen und nicht alles mit sich machen zu lassen.
Wann und wie kam es denn dazu, dass die Ausbildung nun an den Himmelsfels weiterzieht?
Luh-Maier: Der Vorstand hat sich schon seit 2019 damit befasst, dass diese beiden Ausbildungsstätten unter einem Dach und die kleiner werdende Anzahl an Kolleg-Studierenden eine hohe Komplexität mit sich bringt. Es war auch klar, dass mein berufliches Ende naht, ebenso wie das meines Stellvertreters. So musste die Entscheidung getroffen werden, ob man in neues Personal und eine Zukunft investiert und noch mal neu aufbaut oder man ein natürliches Ende geschehen lässt. Es wurde viel diskutiert und überlegt, aber schlussendlich 2022 entschieden, keine neuen Studierenden mehr aufzunehmen, sodass jetzt der letzte Jahrgang ausgesandt wird; die gehen ins Anerkennungsjahr und dann geht die Kollegausbildung nach 95 Jahren zu Ende. Da wir auch schon eine Zeit lang Trauerarbeit geleistet haben, war Platz für neue Gedanken da. Das Kolleg ist eine akkreditierte Fachschule mit einem guten Fundament und einer guten Ausbildung, es wäre ja dumm, wenn man das einfach vergehen lässt. So kam die Idee auf, dass man diese ‚Hülle‘, der akkreditierten Fachschule, nutzen und neu füllen könnte. Pfarrer Frank Weber, langjähriger theologischer Dozent, der auch das Interkulturelle am Kolleg stark geprägt hat, setzte sich dafür ein, den interkulturellen Schwerpunkt der Kolleg-Ausbildung am Himmelsfels in neuer Trägerschaft fortzuführen. Im März 2023 entschied sich der Vorstand, dass er alles, was zu einer Trägerschaft gehört, formal-juristisch und inhaltlich ab- und an den Himmelsfels übergibt.
Was genau ist denn der Himmelsfels?
Luh-Maier: Der Himmelsfels ist ein Berg in der mittelalterlichen Stadt Spangenberg bei Fulda. Der Ort ist auf einer ehemaligen Ruine aus Kalkstein entstanden, ein Schutthügel, der neu bepflanzt und nutzbar gemacht wurde. Ziel des Ortes soll ‚eine Quelle gemeinsamen Lebens und Lernen zwischen Generationen und Nationen werden. Ein Ort der Gastfreundschaft und der Versöhnung.‘ Da finden interkulturelle Veranstaltungen und Tagungen statt, da kommen junge Menschen hin – der Ort ist der Ort der Gastfreundschaft. Und das Kolleg kommt als Gast dorthin, um heimisch zu werden. Wir wollten auch zeigen: Es ist zwar etwas, dass sich fortsetzt, aber ganz neu und ganz anders – deshalb auch an einem neuen Ort und in neuer Trägerschaft. Man kann in den kleinen Ort Spangenberg auch noch mal ganz anders hineinwirken als in so einer größeren Stadt wie Kassel. Am Lehrplan ändert sich aber nichts. Die Studierenden werden weiter als Erzieher*in/Jugendreferent*in ausgebildet, allerdings mit weniger Fokus auf die CVJM-Arbeit.
Du wirst im Sommer in den Ruhestand eintreten. Worauf freust du dich am meisten?
Luh-Maier: Ich gehöre zu denen, die noch gar nicht ganz so intensiv drüber nachgedacht haben, was sie dann machen. Ich bleibe Lehrbeauftragte am Himmelsfels Kolleg für Themen, die mir sehr am Herzen liegen und werde deshalb immer wieder in Spangenberg sein. Ich freue mich sehr auf die neuen Kontakte, die neuen Begegnungen und den interkulturellen Austausch. Außerdem habe ich eine Ausbildung zur Hospiz-Begleiterin begonnen. Noch bin ich am Anfang, ohne viel Praxiserfahrung, aber diese Fortbildung bereichert mich jetzt schon sehr. Daneben möchte ich unterwegs sein und reisen, ohne an die Schul- oder Semesterferien gebunden zu sein. Und ich möchte weniger ‚müssen‘.
Die 2009 gegründete, staatlich und kirchlich anerkannte CVJM-Hochschule – YMCA University of Applied Sciences – führt in Präsenz- sowie in berufsbegleitenden und onlinebasierten Teilzeit-Studiengängen in den Bereichen Theologie und Soziale Arbeit zum Bachelor of Arts und Master of Arts. Außerdem bildet die CVJM-Hochschule Erzieher*innen und Jugendreferent*innen aus. Verschiedene Weiterbildungen ergänzen das Angebot. Die CVJM-Hochschule betreibt zusätzlich vier Forschungsinstitute (Institut für Erlebnispädagogik, Institut für Missionarische Jugendarbeit, Institut empirica für Jugendkultur und Religion sowie das Evangelische Bank Institut für Ethisches Management). Zum Wintersemester 2023/2024 sind 474 Studierende immatrikuliert. Rektor der CVJM-Hochschule ist Prof. Dr. Tobias Faix. Die Studierenden leben in einer Lern- und Lebensgemeinschaft auf dem bzw. in der Nähe des Campus.
Träger der CVJM-Hochschule ist der deutschlandweite Dachverband der Christlichen Vereine Junger Menschen (CVJM/YMCA), der CVJM Deutschland. Der CVJM/YMCA ist weltweit die größte überkonfessionelle christliche Jugendorganisation, die insgesamt 40 Millionen Menschen direkt erreicht, und weitere 25 Millionen Menschen indirekt. In Deutschland hat der CVJM 310.000 Mitglieder und regelmäßige Teilnehmende. Darüber hinaus erreicht er in seinen Programmen, Aktionen und Freizeiten jedes Jahr fast eine Million junge Menschen. Schwerpunkt des CVJM in Deutschland ist die örtliche Jugendarbeit in 1.400 Vereinen, Jugendwerken und Jugenddörfern.
Ehrenamtlicher Vorsitzender des CVJM Deutschland ist Präses Steffen Waldminghaus. Hauptamtlicher Leiter ist Generalsekretär Pfarrer Hansjörg Kopp.